Das Richtige im Falschen

6.7. Sommer 2016
Expats argumentieren ihren Wegzug aus Katar oft sinngemäß damit, dass es ja nicht das richtige Leben sei, in dem man dort lebe. Sie sehen sich und ihre Kinder in einem falschen, einem unechten, künstlichen Dasein, aus dem man spätestens nach drei, vier Jahren hinaus müsse, um sich wieder hinwenden zu können zur Realität.
Hier nun, in einem 1500-Seelendorf in Bayern, sinniere ich darüber, was das wahre, echte, ungekünstelte Leben ist und ob es das überhaupt gibt. Da oben heute auf der Alm jedenfalls, wo Hühner statt Katzen unterm Tisch um Brezelkrümel betteln, das saftiggrüne Gras blendet und mit Anheben des Kaffeehaferls von rechts ein blondes Mädel auf einem gelben Gaul um die Ecke kommt und die Dirndl-tragende Bedienung grüßt, während diese den Obazden, mit Salzstangen dekorativ angerichtet, vor mich stellt, drunten im Tal ganz, ganz saubere Kühe einer Frührenter-Wandersgruppe fröhlich hinterherlaufen und dabei auch noch die Glocken so schön bimmeln, kommen mir Zweifel, ob wir uns  denn h i e r  im wahren Leben befinden.
Ich drehe meinen Kopf rechts hin zum Mann, er tut‘ mir gleich, wir schauen uns ungläubig an – es fehlt das Mannsbild in Lederhose mit Trachtenhut, das auf einem Trecker vorbeifährt … Wir hören wir ein Motorengeräusch, ein Türklappen, tiefsten Miesbacher Dialekt … Es wird doch nicht … Puh, nein, das wäre zuviel. Ein volltätowierter Mitfünfziger steigt aus einem Pajero. Frisur aus der Achzigern (hinten rasiert, oben ein dauergewellter Puschel), die Brille mit Blitz-Design, kurze, beige Hose, hellblaues T-Shirt. Okay, das ist schon eher reel, oder doch vom anderen Stern?

Wo ist es aber nun, das wahre Leben? Was muss gelernt, erlebt und gelebt sein und gehört zum Kanon des wirklichen Daseins?

Wir beschließen am Ende des Tages, dass das wahre Leben subjektiv ist und es auch bleibt und finden es unglaublich, dass es soviele Wahrheiten gibt und total doof, dass man immer glaubt, man hätte die einzig wahre.

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