Die Erinnerungen während des Sommers in meiner Heimatstadt ploppen hoch wie die Luftblasen beim langsamen Ablaufen des heißen Wassers im Porzellan-Kaffeefilter meiner Oma. Ich denke an jene Sonntag-Nachmittage bei ihr, zu denen die gesamte, schwergewichtige Verwandtschaft aus den umliegenden Dörfern Eibach und Merkenbach nach Dillenburg eingeladen wurde und dieser väterliche Teil meiner Familie fröhlich und gedankenlos gesundheitliche Aspekte des Lebens ignorierte.
Anlässlich der beliebten Familientreffen wurde die „Gut’ Stubb“ geöffnet, die sonst immer verschlossen und verwaist blieb. In der Mitte stand der Tisch, an der einen Wand ein Gästeklappbett, das, wenn überhaupt, nur von uns Enkeln zum Übernachten benutzt wurde. Eingeklappt mit zwei Vorhängen versehen, erinnerte es an ein Minitheater und wurde als solches auch von uns zum Spielen verwendet. An der Wand gegenüber stand eine niedrige, schwarze Couch und zwei Gemälde-Reproduktionen hingen darüber, die ich oft anstarrte und bei denen ich mich fragte, wer diese Verwandten wohl sind. Sie zeigten, das erfuhr ich erst viel später, die gebürtigen Dillenburger Wilhelm I. Prinz von Oranien und Johann VI. Graf von Nassau-Dillenburg (s.u.).
An diesen Nachmittagen also, so ab halb vier, thronten an den Enden des riesigen Tisches mein Großvater und Onkel Reinhard, dessen tiefschwarze Augenringe mich immer erschauern ließen und dessen Bauch gewaltig war. Onkel Reinhard hatte sein Bein während des Krieges in der Wetterau verloren und da er sich nur mit Mühe und Stock fortbewegen konnte, rührte er sich von Anfang bis Ende des Gelages nicht vom Fleck, schob laut schwadronierend ein Stück Kuchen nach dem anderen in sich hinein und paffte dabei eine dicke Zigarre, deren Schwaden über die Kaffeetafel waberten. Zwischen die beiden quetschten sich auf die viel zu niedrige Couch die anwesenden Kinder und auf den Stühlen der Rest der Verwandtschaft.
Pro Kopf wurde eine Torte oder ein Kuchen erwartet und alle mussten verpflichtend ein Stück von jeder Sorte probieren. Natürlich war alles selbst gebacken und neben den Klassikern Streuselkuchen, Käsesahne, Schwarzwälder Kirsch, Blechkuchen und Obstboden, gab es auch schon mal Experimentelles, wie die Zuger Kirschtorte. Die Krönung für mich jedoch war der ”Frankfurter Kranz“, natürlich mit echter Buttercreme! Nach Stunden der Herstellung und im Kühlschrank war er der unbeschreiblichste Genuss.
Nach dem Kaffee dann, gegen 6, ging es weiter: Süß wurde abgeräumt und das Abendessen aufgetischt. Jetzt hatte man Lust auf Deftiges! Traditionell gab es Kartoffelsalat mit Würstchen und mindestens dreilagig aufgetürmte Frikadellen. Vielleicht kommt daher meine Vorliebe für Thomy-Senf mittelscharf …
Sicher ist, nie mehr wird es wohl so gut und einzigartig schmecken wie an jenen Sonntagen in der Rehgartenstraße in Dillenburg, Mitte der 70er, als Cholesterin und Adipositas noch Fremdwörter waren!
- Merkwürdiger „Verwandter“: Johann VI. Graf von Nassau-Dillenburg
- Prinz Wilhelm I. von Oranien – Befreier der Neiderlande, in Dillenburg geboren. Ebenfalls nicht verwandt.