Rechts getackert

Es lässt sich schwer beschreiben, warum sich in einem streng muslimischen Land ein nicht gekanntes Gefühl von Freiheit einstellt.
Man ist ja bestimmten Regeln, ob moralischer, gesellschaftlicher Art oder selbstauferlegt, bzw. anerzogen, verhaftet. Man hält diese ein. Sie sind verinnerlicht.

Das ist hier zwar auch so, aber die, ich möchte es mal „gesellschaftliche Kontrolle“ nennen, fehlt. Genau das gibt dem Ganzen hier eine gewisse, ja, auch angenehme Haltlosigkeit. Dass man den Sonntag hier am Freitag feiert und fünfmal am Tag der Muezzin ruft, ist eine Nebensache. Das bestimmt nicht das Leben hier, das ist ein Teil davon. Es begegnen dir derart verschiedene moralische Gesetze, Ansichten, Regeln, Verhaltensweisen, dass du in Versuchung gerätst, dich einfach mal anders und unerwartet zu verhalten. Interessieren tut das nämlich niemanden wirklich.

Natürlich regen sich alle entsprechend ihrer Mentalität genauso auf wie sie es gewohnt sind, es wird gelästert, gemobbt, sich beschwert und hergezogen und doch hat dies keine Konsequenz, bzw. findet keine echte Umsetzung im Verhalten. Im positiven übrigens auch: Es wird gelobt, geherzt, für fantastisch befunden aber es „wuppt“ irgendwie nicht und man nimmt die Begeisterung für etwas hin, aber irgendwie nicht ab. Man könnte das „Nebeneinanderherleben“ nennen, oder „Oberflächlichkeit“, oder „Unverbindlichkeit“, oder „Gleichgültigkeit“, und doch – es ist nicht immer unangenehm, denn „locker bleiben“ ist dafür die Grundhaltung. Und diese Fähigkeit locker zu bleiben, die man hier entwickelt, liegt nicht nur an den vielen Stunden, die man im Stau steht, wo das Meditieren zur Überlebensstrategie wird … Dadurch, dass wir alle hier zusammengewürfelt wurden und jeder weiß, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit nicht länger als 4 Jahre hierbleibt, legt sich eigentlich niemand wirklich fest – auf nichts. Das hat den Geschmack von Freiheit, ich schwör’s. Die Familie wird da im Gegenzug extrem wichtig und besetzt hier den Teil „Sicherheit“, „Verbindlichkeit“, „Miteinander“. Wenn man etwas unternimmt, dann mit der Familie und gemeinsam mit anderen Familien. Singles haben es hier nicht leicht.

Als meine ägyptische Arabisch-Lehrerin Mona letztens ganz beiläufig die Arbeitsblätter rechts oben zusammentackerte erkannte ich glücklich: Genau das ist es! Hier ist alles rechtsgetackert, zum einen, weil es natürlich logisch ist (Leserichtung von rechts nach links), zum anderen aber auch, weil das unser deutsches Lebensgefühl hier auf den Punkt bringt: es ist hier genauso wie Daheim, will sagen: Es wird getackert – nur eben die andere Seite.

Die Offenheit, die man hier lernt und die einen auch zugegebenermaßen etwas undicht macht, macht es Rückkehrern vielleicht so schwer wieder in der Heimat Fuss zu fassen. Man wird im fremden Land einerseits zurückgeworfen auf die eigenen Prinzipien, gewinnt an Klarheit, was man will, was nicht, muss sich jedoch andererseits gleichzeitig in der Akzeptanz, nicht unbedingt im Verständnis, zu anderen, fremden Verhaltensweisen, Lebensformen, Ansichten öffnen. Wer sich hier nicht öffnet, wird sich hier wahrscheinlich nie wohl fühlen. Zuhause erwarten einen die gewohnten Regeln und Erwartungen, die zu erfüllen man ja eigentlich Routine hat – aber einmal diese Freiheit gefühlt, fällt es nicht unbedingt leicht wieder links zu tackern.