Meine Tante

Es heißt, ich sähe meiner Tante wahnsinnig ähnlich und wenn ich meine Mutter und Schwester anschaue, beide klein und mager und sommersprossig, muss ich sagen, da ist wohl etwas dran. Keines dieser Attribute trifft auf mich zu und auch nicht auf meine Tante.

Im mondänen Modekaufhaus unseres hessischen Heimatstädtchens, heute längst durch einen Dollar-Hugo ersetzt, hatte die Tante den Onkel seinerzeit kennengelernt. Dort arbeiteten sie als Verkäuferin und Schauwerbegestalter. Frisch verheiratet zogen sie fort aus der Kleinstadt, in der auch ich später aufwuchs. Trotz großer Widerstände meiner Großeltern wagten sie den ungewöhnlichen Schritt nach München zu ziehen und ahnten noch nicht, dass sie dort, schon bald erfolgreich und dann vermögend, über viele Jahrzehnte bleiben würden.

Meine Tante machte es sich neben der Repräsentation an der Seite meines Onkels zur lebenslangen Aufgabe ihrer zurück im ländlichen Hessen verbliebenen Verwandtschaft die große weite Welt nahezubringen. Sie lud uns ein, beherbergte uns und zahlte, was an Kosten anfiel. Das war uns ein bisschen peinlich, aber weil wir nicht viel Geld hatten, nahmen wir es an. Ich erkannte allerdings erst sehr viel später, wie sehr mich diese Zeit in München vorbereitete auf ein Leben, das auch mich hinausführte aus der Beschränktheit einer  Kleinstadt. Als Erwachsene erst wurde mir klar, dass ich bereits mit 10 Jahren den Jedermann in Salzburg gesehen hatte, dass die quälenden Stunden in einem klassischen Konzert, in das ich mitgeschleppt wurde, Grundsteine für meine Liebe zu Kunst und Kultur gewesen waren. König Ludwig war mir kein Unbekannter in diesen Jahren und Ausflüge zu barocken Kirchen und Klöstern gehörten mit zum umfangreichen Programm der Ferienaufenthalte bei der Tante. Dazu wurden keine Mühen wurden gescheut dem verlotterten Kind aus der hessischen Heimat beizubringen, wie man sich ordentlich benahm, richtig wusch und korrekt das Besteck zu halten hatte.

Das Verhältnis meiner Mutter zur Schwägerin war entsprechend aber sie ließ mich ziehen, wenn ich eingeladen wurde. Meine Schwester, etwas älter und weniger unbekümmert als ich, hielt sich dagegen trotzig an der Seite meiner Mutter und übernahm ihren kritischen Blick auf die „Bayerische Verwandschaft”, während ich, meiner mit verrückten Ideen gesegneten gleichaltrigen Kusine zudem sehr zugetan, zugleich staunend und ungläubig alles hin- und mitnahm: langweilige Konzerte, merkwürdige Theaterstücke, unverständliche Benimmregeln, viel zu anstrengende Bergwanderungen, aufwändig dekorierte Kindergeburtstage und legendäre Faschingsfeiern.

Wenn er anwesend war, übernahm mein Onkel vornehmlich den lustigen Part bei allen Unternehmungen. Das Werbe-Imperium, das er damals aufbaute, ließ nicht viel Zeit für die Familie, aber die tollen Geschenke, die er von der Arbeit mitbrachte, inklusive seiner immer guten Laune ließen die Strenge und Unzufriedenheit der Tante im Nichts verpuffen und ihre rügenden Ausrufe seines Namens perlten ungenhört an ihm ab.

Meine Tante war unerschütterlich, ja, unbarmherzig in ihren Ansichten, egal ob es um Politik oder korrekte Körperhygiene ging. Sie war ungemein großzügig, nahm ungern etwas an und  wurde gleichzeitig fuchsteufelswild, wenn man ihre Regeln brach und zum Beispiel vergaß sich zu bedanken oder Benimm-Standards zu ignorieren. Fremde bekamen dann den berüchtigten Blick, der, so sagt man, auch mir zu eigen ist, Freunde und nahestehende Verwandte den vorwurfsvollen Ausruf des jeweiligen Vornamens oder mehrmals hintereinander ein mit einem energischen Kopfschüttler ausgeprustetes Naseschnauben entgegengeschleudert. Zeitlebens blieb sie auf skurrile Weise in gleichem Maße herrschaftlich ungnädig und liebevoll einfach. Dreißig lange Jahre siezte sie konsequent den Lebenspartner ihrer Tochter, weil diese partout nicht heiraten wollte, nie aß sie zuhause mit ihren Gästen gemeinsam am Tisch. Während man die aufgetischten Köstlichkeiten verschlang, kontrollierte sie stehend oder mit weggedrehten Beinen am Tisch sitzend, locker den Ellenbogen aufgelegt, dass ja auch alles aufgegessen wurde, was sie in ihrer klitzkleinen Küche höchstselbst zubereitet hatte – immer eine geblümte Kittelschürze straff über den Leib gebunden. Angebote ihr zu helfen wurden nur der Form halber gemacht, denn wir alle wussten, sie würde sowieso ablehnen. Man riskierte lieber nicht „den Blick”. Am Ende widersprach ihr niemand mehr.

In Memoriam, August 2021

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